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Liebe Geschwister,
obwohl der Wortlaut des Losungsheftes „Ihr urteilt, wie Menschen urteilen“ vielleicht etwas eingängiger ist, habe ich mich für die obige Übersetzung entschieden, weil hier schärfer zum Ausdruck kommt, worum es geht. Bei „urteilen“ könnte man auch an Beurteilungen denken, wie man sie in der Schule oder vom Arbeitgeber bekommt. Zwar wird heutzutage auch damit viel Schindluder getrieben, aber ich denke nicht, dass das hier angeprangert wird. Urteilen im Sinne von beurteilen ist etwas ganz Normales, das aber auch Sorgfalt erfordert. Von uns als Gemeinde wird sogar Urteilsvermögen erwartet, wenn z. B. in 1. Kor. 14, 29 aufgefordert wird, das zu beurteilen, was in den Gottesdiensten geschieht.
Ich denke schon, dass es in unserem Wort um ein Urteil wie nach einem Gerichts-prozess geht. So etwas kennen wir wohl alle, wenn auch hoffentlich nicht aus eigener Erfahrung. Ich muss gestehen, dass ich mir gern mal eine Gerichtssendung ansehe. Nicht in erster Linie, um mir die Verdorbenheit des Menschen und die Spiel- arten des Bösen vor Augen zu führen. An dieser Stelle ist das biblische Menschenbild noch viel realistischer und unübertroffen. Was mich vielmehr fasziniert, ist die Vor- gehensweise, um die Wahrheit herauszu-finden:
Am Anfang steht die Anklageschrift des Staatsanwaltes, die einer Vorverur-teilung gleich kommt, und dieser versucht im Laufe der Verhandlung, durch Indizien oder Zeugen seine Sicht der Dinge zu erhärten. Der Angeklagte selbst darf grundsätzlich, aber auch zu einzelnen Aussagen Stellung nehmen, hat aber vor allem einen Vertei- diger zur Seite, der seinerseits Zeugen und Umstände vorbringt, die ihn entlasten. Der Ausgang ist sehr unterschiedlich. Manchmal legt der Angeklagte unter der Last der Beweise ein Geständnis ab. Manchmal verstricken sich Zeugen in Widersprüche oder es wird durch andere Umstände deutlich, dass der Falsche auf der Anklagebank sitzt. Ein ungutes Gefühl habe ich, wenn bis zuletzt nur Indizien vorhanden sind und der Richter trotzdem ein Urteil fällen muss. Ich möchte dann nicht in seiner Haut stecken. Aus Amerika sind Fälle bekannt, wo jemand auf Grund von Indizien zum Tode verurteilt und später mit neuen Untersuchungsmethoden als unschuldig erwiesen wurde. Man wird dann zwar rehabilitiert, aber vieles ist nicht wieder gutzumachen. Genau um diese Problematik geht es meines Erachtens in unserem Monatsspruch. Der Herr Jesus hat es ja am eigenen Leibe erfahren, was es heißt, vorverurteilt zu wer- den. Er passte nicht zu den Vorstellungen, die man von einem Messias (Heilsbringer) hatte, er war unbequem, wurde zunehmend als Konkurrent und Ruhestörer empfun- den. Dass er segnend und heilend durch die Lande zog, wurde bewusst ignoriert oder böswillig umgedeutet. In Johannes 10, 32 fragte er die Juden, die ihn steinigen wollten: "Viele gute Werke habe ich euch von meinem Vater gezeigt; für welches dieser Werke wollt ihr mich steinigen?"
Es geht eben nicht nur darum, dass man ein falsches Bild von dem Anderen hat, sondern dass das immer auch weitreichende Folgen hat. Im schlimmsten Fall wird dadurch das Leben des Anderen zerstört, wie wir es bei unserem HERRN sehen. Er starb letztlich wie ein Verbrecher den qualvollsten Tod, den Tod am Kreuz, obwohl er schuldlos war.
In unserem heutigen Wort versuchte der Herr noch, seine Feinde vor diesem fatalen Irrtum zu bewahren, aber es ging ihm dabei letztlich nicht nur um die eigene Person, sondern um eine grundsätzliche Feststellung, die uns im Umgang miteinander helfen kann. Die erste Frage ist ja, ob uns ein richterliches Urteil überhaupt zusteht. Paulus sagt einmal in Römer 14, 4: „Wer bist du, der du den Hausknecht eines anderen richtest? Er steht und fällt seinem eigenen Herrn.“ Oder der HERR selbst sagt: "Rich- tet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet,… denn mit welchem Maß ihr messt, wird euch gemessen werden“ (Matthäus 7, 1+2). Das heißt doch, dass man unterschied- liche Maßstäbe anlegen kann. Und wenn gesagt wird „ihr richtet nach dem Fleisch“, dann bedeutet das für mich, dass das wohl selten der Maßstab Gottes ist. Bei uns schwingen soviel andere Dinge mit: Zuneigung oder Abneigung, eigene Erfahrungen, Zorn, Gedanken der Vergeltung u. a. m. Und wir haben auch meist nur äußere Anhaltspunkte dafür (eine Übersetzung sagt deshalb: Ihr urteilt nach dem äußeren Schein). Wir können dem anderen nicht ins Herz sehen, wir kennen auch nicht alle Begleitumstände. Das kann nur Gott, deshalb sollten wir getrost ihm das letzte Urteil überlassen, über den anderen und über uns selber. Wenn wir aus irgendwelchen Gründen doch ein vorläufiges Urteil abzugeben haben, dann sollten wir es nie tun, ohne dass sich der andere verteidigen oder seine Beweggründe darlegen konnte. Und da wir den besten Anwalt kennen, der schon jetzt ständig für uns eintritt, sollten wir anderen den Weg zu ihm nicht versperren, sondern im Gegenteil auf ihn hinweisen.
Der Herr segne uns im Miteinander und im Umgang mit Außenstehenden,
Ihr Karl-Heinz Pohle