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Lieber gläubiger Leser,
als erstes war ich überrascht, in einem Buch, das zu Recht den Titel „Klagelieder“ bekommen hat, eine solch positive Aussage zu finden. Gerade im 3. Kapitel, dem wohl persönlichsten, in dem Jeremia ungeschminkt, aber auch ungeschützt, seine eigene seelische Befindlichkeit, sein Verletztsein, sein Unverständnis für das Handeln Gottes im eigenen Leben und dem seines Volkes herausschreit, vermutet man eine solche Wendung um 180° nicht.
Lesen Sie doch einmal die ersten 20 Verse. Wie viel Bitterkeit, Enttäuschung und Leiden an Gott kommen da zum Ausdruck, so dass man fast geneigt ist zu fragen, ob man so mit Gott reden darf? Sollte man solche Passagen nicht lieber übergehen und sich dem Positiven und Erbaulichen zuwenden, damit man nicht selber trübsinnig wird und ins Wanken kommt? Aber genau das gehört zum Glauben dazu, dass er sich unter Belastungen bewährt, die zum Glück nicht immer so extrem sind wie bei Jeremia (manchmal aber noch härter sein können). Was musste dieser Mann durchmachen! Er hatte diesen Auftrag nicht gesucht, im Gegenteil, aber Gott war unerbittlich geblieben. Später drückt er es einmal so aus: „Du hast mich beredet und ich habe mich bereden lassen; du hast mich gepackt und überwältigt.“ (Jeremia Kap. 20, 7)
Und so musste er über mehr als 50 Jahre immer wieder Gerichtsbotschaften weitergeben, die ihn zu einem einsamen Menschen, zum Außenseiter in der Familie, aber vor allem in seinem Volke machten, weil er scheinbar allein auf weiter Flur stand und gegen die allgemeine Meinung ankämpfen musste, und das mit eher geringem Erfolg. Wie oft machte ihm das zu schaffen.
Nein, er war nicht der unverwüstliche Vollstrecker der Aufträge Gottes, sondern er litt unter dem Schicksal seines Volkes (Jeremia Kap 8, 18-23), für das er nicht einmal beten durfte. (Jeremia 11, 14) Wie stark bewegt uns der Zustand unseres eigenen Volkes oder auch der des Gottes-volkes? Und er genoss keine Sonderstellung. Er war in das Ergehen seines Volkes hinein-verflochten, was soweit ging, dass er nach der Zerstörung Jerusalems und der Deportation großer Teile des Volkes das Los des Überrestes teilte und sie auf ihrem falschen Weg nach Ägypten begleitete, wo sich dann seine Spur verlor.
Und was hatte er zuvor schon alles erleiden müssen: Auf Gottes Geheiß waren ihm Frau und Kinder versagt geblieben. Oft war er körperlich bedroht und misshandelt, mehrfach unter misslichen Verhältnissen eingesperrt worden. Ist es da nicht verständlich, wenn man mürbe wird (Jeremia Kap.15,10-18 und Kap.20,14-18)? Und Gott scheint das nicht einmal zu beeindrucken. Er fordert den Jeremia sogar zur Umkehr auf, damit er Ihm weiter dienen darf (Jeremia Kap. 15, 19-21)!
Aber zurück zu unserem heutigen Text: Ich weiß nicht, wann und in welcher Situation Jeremia diese Klagelieder verfasst hat. Mir kommt es wie eine Rückschau auf sein Leben vor. Und es ist sicher gut, wenn man wieder mehr im Gleichgewicht und zur Ruhe gekommen ist, noch einmal über alles nachzudenken. Dann bleiben die Fakten zwar dieselben, aber man sieht manche Dinge in anderem Licht, erkennt Zusammenhänge und Absichten Gottes besser. Nur so kann ich die erstaunliche Wendung verstehen, dass Jeremia plötzlich, ohne sich selbst etwas vorzumachen, Gottes Gütigkeiten, Erbarmungen und Treue erkennt (Klagelieder Kap. 3,22+23).
Wichtig ist auch die Einsicht, dass es Gott keine Freude macht, Menschen zu plagen oder zu belasten, sondern dass in jedem Falle Heilsabsichten dahinter stecken (Verse 33+26+27). Um das zu entdecken, muss man ausharren, wie unser Monatsspruch es nennt. Vielleicht ein altertümlicher Ausdruck, den mancher nicht mehr versteht. „Harren“ ist nicht nur ein Warten und Hoffen schlechthin, sondern ein Dranbleiben unter kleinen und großen Belastungen. Damit ist keineswegs nur ein passives Erdulden, kein „sich in sein Schicksal ergeben“ gemeint, sondern ein aktives „nach Gott fragen und suchen“ mit all unseren Widersprüchen, schrägen Gedanken und Irrwegen, die uns unterlaufen. Gott in Seiner Güte hält das aus!
Damit bin ich wieder in der Gegenwart, bei uns. An anderen Menschen zu sehen und zu erleben, wie sie mit Schwierigkeiten fertig werden und ihr Verhältnis zu Gott daran nicht zerbricht, hat doch letztlich das Ziel, das wir selber ähnliche Schritte gehen: Uns an die vielfältigen Zusagen Gottes zu erinnern, uns auch bereits gemachte Erfahrungen der Hilfe zu vergegenwärtigen und immer wieder die Nähe Gottes zu suchen. Wenn uns das allein zu schwer fällt, dann dürfen wir gerne andere Geschwister um Mithilfe und Mittragen bitten, denn auch dazu sind wir zusammen gestellt (Brief an die Galater Kap. 6,2).
Ich wünsche Ihnen, besonders aber denen, die in irgendeiner Form angefochten sind, Erfah-rungen der Güte Gottes.
Ihr Karl- Heinz Pohle