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Dezember 2016

 

Meine Seele wartet auf den Herrn, mehr als der Wächter auf den Morgen.
Psalm 130, 6


Lieber Leser,

die Bibel hat an vielen Stellen eine bilderreiche, lebensnahe Sprache, die uns helfen kann, bestimmte Zusammenhänge besser zu verstehen. Heute ist es der Beruf eines Nachtwächters, der uns als Vergleichspunkt vor Augen gestellt wird. Ehe wir also geistliche Anwendungen machen, müssen wir uns erst ein wenig mit diesem Berufsbild befassen. Und da merke ich, dass ich da eigentlich gar nicht so richtig mitreden kann. Die Zeiten, wo ich mal einige Jahre im Dreischichtsystem gearbeitet habe, liegen lange zurück am Anfang meines Berufslebens. Auch das „Wacheschieben“ bei der Armee, von dem sicher so mancher Storys erzählen könnte, ist mir erspart geblieben. Was ich allerdings kenne, sind Nächte, wo man einfach nicht zur Ruhe findet und scheinbar nicht einschlafen kann, weil man vom Tag her noch zu aufgedreht ist, ein Problem die Gedanken immer wieder in uns kreisen lässt oder körperliche Beschwerden unseren Schlaf beeinträchtigen.

Ich will also versuchen, mich in die Situation und die Gefühlslage hinein zu denken, die der Psalmbeter hier beschreibt, wobei mir klar ist, dass die Anforderungen an einen Wächter und die Gefahrenlage damals sicher oft noch ganz anders waren als heute. Wenn man an eine Nachtwache im Freien denkt, fallen einem wahrscheinlich zuerst die Worte Finsternis und Kälte ein. Unsere Wahrnehmung der Umgebung ist stark eingeschränkt, was nicht selten zu Sinnestäuschungen, manchmal sogar zu Ängsten führen kann. Aber auch reale Gefahren sind nachts stärker vorhanden: die Gefahr, vom richtigen Weg abzukommen und die Gefahr, Zielscheibe feindlicher Anschläge zu werden. Die Zunahme der Müdigkeit und die Strapazierung von Geduld und Ausdauer, die schon so nicht zu den größten menschlichen Tugenden gehören, tun noch ihr Übriges. Das alles führt zu der schlichten Erkenntnis, dass der Mensch im Grunde nicht für die Nacht geschaffen ist.

Dieses Schöpfungskonzept Gottes wird in der Bibel immer wieder bezeugt (siehe 1. Thess. 5, 5), aber auch unser „Biorhythmus“ kann uns gelegentlich auf die Sprünge helfen. Ich kann deshalb schlecht verstehen, dass manche ohne Notwendigkeit die Nacht zum Tage machen und so Raubbau an ihrem Körper betreiben. Für den Psalmbeter hatte das Empfinden, „umnachtet“ zu sein, aber noch eine ganz andere Dimension. Zuallererst eine ganz persönliche, die in dem Aufschrei „Aus der Tiefe rufe ich zu dir, Herr!“ ihren Ausdruck findet. Was die Gründe für diesen Tiefpunkt waren, wird nicht im Einzelnen ausgeführt. Dass es in diesem Fall mit Schuld und dem Verlangen nach Vergebung zu tun haben muss, wird aber deutlich (Vers 3 + 4). Deshalb gehört dieser Psalm auch zu den sogenannten Bußpsalmen.

Aber es muss gar nicht nur Schuld sein, die uns in einen solchen Zustand versetzt. Schon die oben genannten Anforderungen der „Nacht“, wenn wir sie geistlich deuten, können ähnliches bewirken. Zum Beispiel das Gefühl, dass mein Gebet scheinbar nicht mehr zu Gott durchdringt oder ich Seine Stimme nicht mehr vernehme oder Sein Wort mir verschlossen ist. Oder Depressionen, die heute weit verbreitet sind und zum Teil körperliche, aber auch vielerlei andere Gründe haben können. Die Frage ist, wie wir damit umgehen. Finden wir uns aus falsch verstandener Duldsamkeit einfach damit ab (wenn Gott das will, wird Er es uns wie bei Paulus deutlich machen), oder halten wir die Sehnsucht danach, dass es schon jetzt heller werden möchte, mit allen Fasern des Herzens aufrecht und bringen es immer wieder zu Dem, der allein helfen kann (was nicht heißt, dass nicht auch seelsorgerliche oder medizinische Begleitung angezeigt sein kann).

Aber es gibt auch eine noch umfassendere Dimension: Wir leben in einer gefallenen Welt, in der die Mächte der Finsternis zwar durch Jesus Christus entscheidend besiegt, aber unter der Zulassung Gottes noch immer wirksam sind. Das wird an vielen Stellen schmerzlich deutlich. An der Zunahme von Gewalt und Grausamkeit im engeren Umfeld und im Zusammenleben der Völker, an der fortschreitenden Missachtung der guten Vorgaben Gottes in Seinem Wort, an der Ratlosigkeit in Politik und Wirtschaft, am Raubbau an Gottes wunderbarer Schöpfung.

Ich weiß, dass wir uns zuallererst über unser Heil freuen und unser Haupt erheben sollen, wenn solche Dinge geschehen (Lukas 21, 28), aber darf uns das alles ganz unberührt lassen? Sollte es in uns nicht wenigstens eine heiße Sehnsucht danach hervorrufen, dass der Herr bald kommt und dann die Nacht zu Ende ist? Das kann uns auch zu neuer Treue im Gebet und im Dienst an dieser Welt befähigen. Ich will Euch deshalb mit dem Wort grüßen, das wie für die Adventszeit gemacht scheint: „Mache dich auf, werde licht,  denn dein Licht kommt bzw. ist gekommen!“ (Jes. 60, 1 - 3 LÜ)

Ihr Bruder Karl- Heinz Pohle